Christian Dietzfelbinger
Lebenslange Verbindung nach Ottensoos
Christian Dietzfelbinger ist der jüngste Sohn des „Judenpfarrers“ Wilhelm Dietzfelbinger und da er bis an sein Lebensende regen Kontakt zu verschiedenen Ottensooser Bürgern hielt, soll er in diesem Schwerpunkt näher vorgestellt werden.
Er wurde am 16.04.1924 geboren und die Familie übersiedelte nach Ottensoos als er eineinhalb Jahre alt war, so dass er seine gesamte Kinder- und Jugendzeit hier verbrachte, was ihn zeitlebens prägte.
Als junger Mann wurde er noch zum Kriegsdienst einberufen und im Februar 1945 durch einen Lungenschuss schwer verletzt. Nach dem Krieg konnte er sein Theologiestudium weiterführen unter anderem in der Schweiz, wo er nach eigener Aussage lernte, was Demokratie ist.
Zwischen 1950 und 1960 arbeitete er als Gemeindepfarrer. Im Anschluss hatte er verschiedene Stellen inne, spürte jedoch sehr bald, dass ihm gerade die Lehre sehr am Herzen lag. Er wechselte in die württembergische Landeskirche und wirkte bei den Lehrgängen für den Pfarrdienst mit. Erst spät, im Jahr 1984 erfolgte die Habilitation und er lehrte im Fach Neues Testament an der Universität in Tübingen. Er hatte eine ganz eigene Art, seine Studenten zu begeistern, so wurden die Seminare auch mal bei Wanderungen über die schwäbische Alb weitergeführt.
Auch nach seiner Emeritierung 1989 unterrichtete er weiter, überhaupt war diese Lehrtätigkeit an der Universität der Höhepunkt seines Berufslebens.
Christian Dietzfelbinger fühlte sich zeitlebens als ein von Gott Beschenkter, auch privat war er ein reicher Mann, hatte er doch mit seiner Ehefrau Barbara, die 2012 verstorben war, sechs Kinder. Ein schwerer Schicksalsschlag war der tödliche Absturz eines Sohnes beim Bergwandern.
Am 23.08.2021 verstarb Christan Dietzfelbinger im Alter von 97 Jahren.
Kindheitserinnerungen
Konrad Haber, der Nachbarsjunge des Pfarrers kam immer wieder mal zu Besuch ins Pfarrhaus, dabei ist es ihm bis heute in Erinnerung, dass Christians Mutter ihn jedes Mal ermahnte: „Konrad, Taschentuch!!“ Warum wohl? Kinder hatten zu der Zeit das, was man auf gut ottensooserisch eine „Ruutzgloggn“ nennt. (Wem dies nicht geläufig ist, gemeint ist eine laufende Nase.)
Der große Garten muss für Kinder ein Eldorado gewesen sein mit einer Vielzahl von Verstecken und beim Binner- Nachbarn haben die beiden auch mal Stachelbeeren stibitzt.
Christian hat eine Kindheitserinnerung aufgezeichnet: „Herr Haber, könnens mer net an Pfitschepfeil schnitzen?“ Das tat dieser bereitwillig und immer noch höre ich, wenn ich die Fertigstellung des Werkes kaum erwarten konnte, die beruhigenden Worte: „Neer langsam.“
Als Christian ins Gymnasium und zum Studieren ging, wurden die Kontakte weniger, aber der Posaunenchor war wieder ein verbindendes Glied.
Interview mit Werner Wolf
Seit wann hattest du Kontakt zu Christian Dietzfelbinger?
Natürlich hatte Christian Dietzfelbinger immer Verbindungen nach Ottensoos, aber mein persönlicher Kontakt hat sich tatsächlich 2005 sehr verstärkt beim 100-jährigen Jubiläum des Posaunenchors. Zu diesem war er mit seinem Bruder gekommen und ich hatte beide freundlich begrüßt. Beim Festessen im Waltersaal vertieften sich die Gespräche und von da an hatte ich ihn öfter eingeladen, bei mir zu übernachten. Dieses Angebot nahm er immer wieder gerne an. Im Jahr 2011 war auch seine Enkelin Sarah mit von der Partie. Auch meine Gegenbesuche in Tübingen haben ihn erfreut, z.B. zu seinem 85. Geburtstag.
Wie äußerte sich die Freundschaft mit ihm?
Wir sind viel miteinander wandern gegangen und haben gemeinsam Brotzeit gemacht. Die Gespräche mit ihm waren immer ungemein bereichernd und haben sich teilweise auch telefonisch fortgesetzt, wenn er wieder daheim war. Ein Genuss waren seine regelmäßigen und ausführlichen Briefe, welche seine großen sprachlichen Fähigkeiten widerspiegelten.
Welches ist für dich die prägendste Erinnerung?
Jede Begegnung mit ihm war einmalig und immer wieder hat mich bei den Gesprächen seine geistliche Tiefe und Spiritualität begeistert. Er war ein Formulierungskünstler, großer Prediger und Buchautor. Die 800 Seiten Bibelkommentar zum Johannesevangelium aus seiner Hand sind ein Beweis, wie intensiv er sich mit der heiligen Schrift auseinander gesetzt hat. Natürlich steht der Kommentar im Reigen vieler anderer Veröffentlichungen.
Was für ein Mensch war er?
Wie bereits angeklungen, war er ein Mann des Wortes und daneben war er aber sehr bodenständig und an jedem Menschen interessiert. Er erkundigte sich nach den Problemen und Nöten und nahm Anteil an ihnen.
Warum war Ottensoos ihm so wichtig?
Hier lagen seine Wurzeln. Die Ottensooser Kirche mit ihren vielfältigen Kunstschätzen und dem Glockenklang hatte es ihm angetan, aber auch das Pfarrhaus mit dem weitläufigen Garten war natürlich ein Kinderparadies, das einen weiter begleitet. Dazu die direkte Nachbarschaft zum Kinderfreund im Habershaus und der Kontakt zu den verschiedensten Familien im Ort und zu seinen Mitkonfirmanden haben dazu geführt, dass er bei seinen Besuchen in Ottensoos immer auch unterwegs war, um all diese Nachbarn und Freunde zu besuchen und zu sehen, wie es ihnen aktuell ging. In der Zeit, als der Beruf und die Familie ihn stark forderten, war der Kontakt wohl etwas weniger, aber im Alter frischte er alles wieder auf.
Da sein Vater gute Kontakte zu jüdischen Familien hatte, war er sehr erfreut über die Wiederbelebung der ehemaligen Synagoge, die durch die vielen kulturellen und bildenden Angebote wieder einen Stellenwert in der Gemeinde erlangt hat.
Besonders lag ihm der Posaunenchor am Herzen, war sein Vater doch einst Chorleiter gewesen und auch sein Bruder, der ehemalige bayerische Landesbischof, hatte dort das Flügelhorn geblasen. Die tiefe Verbundenheit zeigte sich über die Jahre dadurch, dass der Posaunenchor Ottensoos immer wieder bei Beerdigungen im Hause Dietzfelbinger mitwirkte.
Dass in einem Dorf Traditionen erhalten bleiben und dies gemeinschaftsstiftend ist, war ihm bewusst.
Sehr berührt hat ihn stets der Choral „Nun danket alle Gott“.
Zitate von Christian Dietzfelbinger
Noch weiß ich sehr genau, woher ich komme und wo ich herangewachsen bin.
Den Weg von Rüblanden nach Ottensoos – wie oft bin ich ihn einst gegangen, und fast jedes Mal, wenn ich später nach Ottensoos kam, bin ich ihn wieder gegangen. Fast ist es, wie wenn jede Bodenwelle dort eine eigene Erinnerung in sich trüge.
Tübingen, 16. August (mein Computer verweigert die Angabe der Jahreszahl, und es ist mir nicht gelungen, ihn zur Vernunft zu bringen)
Täglich mache ich meinen Spaziergang (mit Gehwagen) und bei allem fühle und weiß ich, dass es mir gut geht. Ich weiß auch, dass ich trotz schrecklichster persönlicher Verluste ein reiches Leben hinter mir habe.
Als wir vor fast zwei Jahren meinen 92. Geburtstag in Ottensoos gefeiert haben, da hat sich manchen aus meiner Familie, die von Ottensoos nur durch mich wussten und die manchmal gelächelt haben über meine Anhänglichkeit an dieses Dorf, dieses Lächeln verwandelt in Staunen und Bewunderung.
Jetzt höre ich – und im Hören erlebe ich -, wie in demselben Dorf die Synagoge wenn nicht als Synagoge, so doch als Gedenkraum wieder Leben in sich birgt und gepflegt wird, wie immer noch Scham und Trauer lebendig sind.
Ich bin damals, in den sechziger Jahren, viel mit meinen Kindern gewandert, und so brachte ich mit meinem Sohn Rudolf ein paar Tage in der Hersbrucker Alb zu … Vom Arzberg ging das letzte Wegstück über Henfenfeld nach Ottensoos und es dämmerte schon, als wir vor dem Habershaus standen. Da waren wir nun, unangemeldet, hungrig und durstig. Darf man sich da überhaupt zeigen? Wir wagten es und wurden freundlich ins Haus gelassen. Was tat sie (Frau Haber) mit uns, den völlig Unbekannten?
Ich sehe sie noch am Herd stehen und eine nicht geringe Zahl von Eiern wurden in die Pfanne geworfen und zu Rühreiern verarbeitet – und wir aßen; ich habe bis zum heutigen Tag nie wieder so viel Rühreier auf einmal gegessen wie an jenem Abend. Wo wir dann übernachtet haben, weiß ich nicht mehr – vielleicht in Eurem Haus; unsere Unverschämtheit kannte keine Grenzen.
Es waren nicht allein die Gärten, in denen wir uns trafen. Die Straße war ein Hauptort des Vergnügens, und wo heute ich weiß nicht wie viele Autos die Pirnerstraße hinauf- und hinunterfahren, rumpelte damals ein einziger Lastwagen ein einziges Mal am Tag vorbei.
Als so beschenkte, beglückte Menschen haben wir mit unserem baldigen Abschied von der Welt zu rechnen.
Bildnachweis: Wolf