Der Judenpfarrer von Ottensoos

Wer war der immer wieder genannte „Judenpfarrer von Ottensoos“ und welcher Art waren seine Auseinandersetzungen in der Zeit des Nationalsozialismus? Dies soll im folgenden Text erläutert werden auf der Grundlage des Aufsatzes „Kirche und Nationalsozialismus in Ottensoos (1930-1933)“ von Gerhard Philipp Wolf aus dem 92. Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken (1984/85).

In den Jahren von 1925-1938 war Pfr. Wilhelm Dietzfelbinger (geb. 1871) Ortspfarrer in Ottensoos und musste sich speziell in den Jahren 1930-1933 mit dem Ortsgruppenleiter Friedrich Hirschmann auseinandersetzen. Die Ereignisse dieser Jahre sind schriftlich dokumentiert.

Der 30 Jahre jüngere Ortsgruppenleiter versuchte zunächst, sich dem Pfarrer anzubiedern und ihn für die nationalsozialistische Partei zu gewinnen. Als dieser aber verdeutlichte, dass er sich für keinerlei politische Ziele instrumentalisieren lassen wollte, wurde der Ton zunehmend aggressiver, wie aus dem Schriftwechsel der beiden zu erkennen ist. Die Kontaktaufnahme begann, als Hirschmann den Pfarrer im Februar 1930 zu einer öffentlichen Volksversammlung mit Julius Streicher als Redner einlud. Der Eingeladene bedankte sich, wies aber auf seine grundsätzliche politische Neutralität hin. Schon einen Monat später bat Hirschmann um eine Aussprache, wobei er darauf hinweist, dass er als „gläubiger Hörer“ in einen Gewissenskonflikt gerate, wenn ein Prediger nicht „National-Sozialist im wahrsten Sinne des Wortes“ sei. Hirschmann legt dem Schreiben vier Schriften bei, darunter den „Stürmer“ und den „SA-Mann“, welche er dem Pfarrer zur Lektüre empfiehlt und worüber er sich austauschen will. Ob es zu diesem Gespräch gekommen ist, ist nicht bekannt.

Dass es Dietzfelbinger sehr ernst war bei der Trennung von Politik und Kirche zeigte sich im gleichen Jahr am Volkstrauertag im November. Die Ortsgruppe der NSDAP legte einen Kranz in der Kirche nieder, auf dessen Schleife das Parteiabzeichen zu sehen war. Schon im Vorfeld hatte Dietzfelbinger seine Vorbehalte ausgesprochen, was aber nichts nützte. In einer daraufhin anberaumten Sitzung des Kirchenvorstandes wurde beschlossen, dass die Ortsgruppe das Parteiabzeichen entfernen sollte. Das Protokoll der Sitzung ging Hirschmann zu, der eine Entfernung versprach, was aber nicht erfolgte. Daraufhin betraute Dietzfelbinger den Kirchenpfleger damit. Hirschmann fragte dann im Februar nach, wo die Hakenkreuzschleife hingekommen sei, was dem Pfarrer nicht bekannt war.

Eine neuerliche Gelegenheit der Kritik bot sich dem Ortsgruppenleiter im März im Zusammenhang mit einer Schlageterfeier. (Albert Leo Schlageter wurde zur Zeit der Weimarer Republik während der Ruhrbesetzung wegen Spionage und Sprengstoffanschlägen von den Franzosen hingerichtet und galt den Nationalsozialisten als Märtyrer.) Als Redner bei der Feier fungierte der Parteigenosse Pfr. Dr. Martin Weigel aus Nürnberg und Dietzfelbinger hatte bei der öffentlichen Bekanntgabe der Feier durch den Gemeindediener verbreitet, dass der Redner keinen Doktortitel trage. Dabei war er tatsächlich einem Irrtum aufgesessen, weil der Titel des Redners in der Ausgabe des „Personalstandes der evang.-luth. Kirche in Bayern“ von 1930 vergessen worden war. Dies war für den Ortsgruppenleiter eine willkommene Gelegenheit, den Vorfall übertrieben aufzubauschen und Dietzfelbinger als „notorischen Lügner“ zu bezeichnen und die entrüstete Reaktion der Bevölkerung und die völlige Empörung der Versammlung zu betonen. Dietzfelbinger wendet sich an den Kollegen und entschuldigt sich für den Vorfall, Dr. Weigel betont, dass ihm an einer Berichtigung nichts liege. Allerdings verweist er ihn zurück auf Hirschmann, so dass der Kleinkrieg weitergehen kann. Gegenüber Hirschmann betont Dietzfelbinger, dass er keine böse Absicht verfolgt hatte, was dieser natürlich nicht gelten lässt. Insgesamt ist er wohl mit dem Erfolg seiner Partei in Ottensoos nicht recht zufrieden.

Beim Volkstrauertag 1931 wiederholt sich das Spiel mit der Hakenkreuzschleife des Vorjahres, wobei Hirschmann die Gültigkeit des Kirchenvorstandsprotokolls vom Vorjahr für die Folgejahre in Zweifel zieht. Zynisch merkt er zusätzlich an, ob wohl auch in diesem Jahr damit zu rechnen sei, dass die Schleife wieder gestohlen werde und er betont pathetisch: „Die Nationalsozialisten von O. werden auch ‚künftighin‘ nicht nach Protokollen, sondern nach ihrem Herzen handeln.“ Er sagte aber zu, dass Kranz und Schleife „feierlich und mit blutendem Herzen“ geholt werden. Allerdings werde dieses Verhalten der Kirchengemeinde „registriert“!

Im Jahr 1933 waren Kirchenvorstandswahlen und Hirschmann dringt darauf, dass der Kirchenvorstand nach dem Willen Hitlers zu zwei Dritteln mit Nationalsozialisten besetzt werden sollte. Dies war der letzte direkte Kontakt zwischen Dietzfelbinger und seinem Widersacher, da Hirschmann mittlerweile zum Kreisleiter aufgestiegen war. Diese Regelung für die Wahlen entsprach der allgemeinen Gleichschaltung des gesamten öffentlichen Lebens zu Beginn der nationalsozialistischen Regierungszeit. Somit wurden die Vorschlagslisten nicht nur von der Geistlichkeit erstellt, sondern bedurften der Zustimmung der örtlichen Parteiführer. Allerdings gelang es den Ortsgeistlichen – auch in Ottensoos – trotz dieser Einschränkungen wenigstens „kirchlich-bewährte“ Nationalsozialisten aufzustellen.

Ein anderer großer Punkt bei der Hetze gegen Pfr. Dietzfelbinger waren Artikel über seine angeblichen Verfehlungen im Hetzblatt „Der Stürmer“. Der größere Artikel erschien schon im Jahr 1931 und wurde dem Pfarramt anonym zugeleitet, rot umrandet und mit dem Kommentar „Pfui Pfarrer!“ versehen. Darin wird ausführlich aus einer antisemitischen Schrift Martin Luthers zitiert, wobei zusätzlich durch die wahllose Aneinanderreihung von Zitaten die Aussagen zugespitzt werden. Zweifellos ist dies ein unrühmliches Werk Martin Luthers, das dieser im fortgeschrittenen Alter geschrieben hat aus Enttäuschung, dass die Juden sich seiner reformatorischen Idee nicht geöffnet haben. Dass diese Schrift wohl schon immer wenige Anhänger fand, zeigt die Tatsache, dass sie lange Jahre in Vergessenheit geraten war und erst im Zuge der nationalsozialistischen Rassenlehre wieder Beachtung fand. Da Luther im evangelischen Bereich als unbestrittene Autorität gilt, war diese Schrift natürlich ein gefundenes Fressen für diese Politik, andere zentrale Botschaften Luthers waren dagegen uninteressant.

Zu den krassen Äußerungen Luthers gegen die Juden wird der Ottensooser Pfarrer quasi als Gegenpol dargestellt, der sich nicht an Luther hält. Im Einzelnen wird ihm folgendes vorgeworfen: zu seinem direkten jüdischen Nachbarn Sommerich pflegte Pfr. Dietzfelbinger ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis.

Das junge Dienstmädchen der Sommerichs hatte Suizid begangen und dies wird natürlich damit begründet, dass sie unter den Schikanen der Hausfrau zu leiden hatte und sich der Hausherr etwas „einem zwölfjährigen Bauernmädchen gegenüber leistete“. Des Weiteren habe der Pfarrer die Einladung zur Hochzeit der Tochter Sommerichs angenommen und dort mitgefeiert, ebenso wie der Bürgermeister und der Oberlehrer. Besonders wird betont, dass der Pfarrer mit zum Begräbnis eines Juden gegangen sei, wobei behauptet wird, bei einem jüdischen Begräbnis würde gesagt: „Wenn du den Nazarener siehst, dann steinige ihn!“

In den Akten ist keine Reaktion oder Gegendarstellung durch Dietzfelbinger zu finden. Der Autor des Aufsatzes Wolf sieht als mögliche Erklärung hierfür: „Dieses Schweigen mag mit der lähmenden Bedrückung zusammenhängen, die von der Wiederentdeckung der Judenschriften Luthers im Nationalsozialismus unter den protestantischen Geistlichen ausging.“

Im Jahr 1933 waren die Anschuldigungen im Stürmer dann allerdings so massiv, dass eine Reaktion erfolgen musste. Der Titel der „Notiz“ trägt die Überschrift „Der Judenpfarrer“ und es werden „Tatsachen“ in einer Art Generalabrechnung in fünf Punkten aufgelistet, wobei es sich überwiegend um einen Aufguss bereits geschilderter „Vergehen“ handelt. Erneut geht es um die Hakenkreuzschleife am Volkstrauertag, um das Absprechen des Doktortitels, um den Besuch der Hochzeit und der Beerdigungen. Außerdem wird der Pfarrfrau vorgeworfen, sie habe ihr ehemaliges Dienstmädchen dazu angehalten, die im Pfarrhaus verkehrenden Juden zu grüßen. Als letzter Punkt wird bemängelt, dass der angestrebte Wahlvorschlag der politischen Leitung „nicht voll durchging, so daß eine Zersplitterung entstand.“ All dies ist altbekannt, aber in einem Zusatz folgen Behauptungen, welche auch die Kirchenleitung nicht einfach so stehen lassen kann, weil es heißt: „Die Ottensooser haben den Herrn Pfarrer Dietzfelbinger satt. Sie können ihm nicht mehr die Achtung entgegenbringen, die ein Seelsorger und Gottesdiener haben muß. Der Herr Pfarrer Dietzfelbinger möge daher aus Ottensoos verschwinden.“

Dekan Monninger aus Hersbruck schreibt an Dietzfelbinger, der zu der Zeit im Urlaub weilt, um seine „bundesbrüderliche und kollegiale Verbundenheit mit Dir zu bekunden“. Eine Gegendarstellung im Stürmer wird als erfolglos gesehen, auch eine Klage beim Pfarrerverein wird nicht erwogen. Der Dekan schlägt eine Kirchenvorstandssitzung in Abwesenheit des Pfarrers vor. In dieser Sitzung können sich die Ottensooser Kirchenvorsteher frei zu den Vorwürfen äußern, wobei klar wird, dass die Gemeinde über die Schmähungen im Stürmer entrüstet ist und der Kirchenvorstand eine Vertrauenserklärung für Dietzfelbinger einstimmig beschließt, welche am darauffolgenden Sonntag in einer Kanzelabkündigung im Gottesdienst verlesen wird.

Oberkirchenrat Thomas Breit vom Landeskirchenamt bittet den Pfarrer um eine Stellungnahme zu der Stürmernotiz, welche Dietzfelbinger abgibt, ebenso an den Ehrenrat des Pfarrvereins.

Hierin geht er davon aus, dass Hirschmann der „geistige Urheber“ des Artikels sei und er vermutet, dass das entlassene Dienstmädchen den Ausschlag für die Stürmernotiz gegeben habe. Anschließend äußert er sich zu den sechs Anklagepunkten in äußerster Knappheit: Die Entfernung der Hakenkreuzschleifen nimmt er voll auf sich, die Teilnahme an der Hochzeit erklärt er für unwahr, ebenso die an den jüdischen Beerdigungen. Er weist nach, dass in seiner Amtszeit von 1925 -1931 nur sechs jüdische Beerdigungen stattfanden. (1925 lebten nur noch 38 jüdische Bürger in Ottensoos, da die jüngeren Bürger wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse in die Städte oder nach Amerika abgewandert waren.) Lediglich 1931 begleitete er den Sarg des verstorbenen Nachbarn Sommerich „mit vielen anderen Ortseinwohnern wie üblich bis an die Pegnitzbrücke“. Die Punkte 4 und 5 (Doktortitel und Grüßen des Dienstmädchens)sind nach seinen Aussagen nicht richtig dargestellt. Zum Thema der Kirchenvorstandswahl erläutert er, dass das Gegenteil zutreffe, er könne als Pfarrer nicht dafür verantwortlich gemacht werden.

Dekan Monniger veranlasst weitere Zeugenaussagen zu den Vorwürfen. So bestätigt der Osternoher Pfarrer, dass Dietzfelbinger am Tag der jüdischen Hochzeit nachmittags anlässlich der Osternoher Kirchweih sein Gast gewesen sei. Der Bruder der Braut merkt an, dass eine „große Anzahl christlicher Einwohner von Ottensoos dieser im Zimmer stattfindenden Trauung vom Gang aus“ zusahen und dass sich der Pfarrer nach dem Trauakt sofort entfernt habe. Der ebenfalls anwesende Bürgermeister bestätigte diesen Sachverhalt.

Diese Stellungnahmen deckten die Unwahrheit der Anschuldigungen auf.

Es kam zu einem weiteren Antwortschreiben Dietzfelbingers an den Landeskirchenrat, in dem er sich ausführlicher äußert, hieraus sei nur noch erwähnt, dass er zu dem Vorfall mit dem Dienstmädchen schreibt: „Es erfordere der Anstand die Nachbarschaft, auch die jüdische, zu grüßen.“ Im Zusammenhang mit der Kirchenvorstandswahl erläutert er, dass er den Wahlvorschlag mit Hirschmann in dessen Wohnung durchdiskutiert habe und dass sich „eine merkwürdige Übereinstimmung“ ergeben habe. Zu einer Verschiebung sei es im Nachhinein nur deshalb gekommen, weil ein Kandidat wegen noch nicht erreichter Altersgrenze ausscheiden musste.

Am Ende betont Dietzfelbinger, dass zur Vertrauenserklärung des Kirchenvorstandes ein „gewisser Mut“ gehörte, weil Hirschmann sie davon abhalten wollte.

Ermutigt durch die Rückenstärkung seiner Gemeinde forderte der Pfarrer Hirschamnn zu einer Aussprache auf, zu der es aber nie kam, obwohl dieser seine Teilnahme zunächst zugesichert hatte.

Der Landeskirchenrat äußerte seine Freude, dass die Gemeinde hinter ihrem Seelsorger stehe, aber er ging nicht so weit, vom Stürmer eine Richtigstellung zu fordern, auch hielt er den Brief zurück, den der Pfarrverein an den Ministerpräsidenten geschrieben hatte. Dietzfelbinger war logischerweise darüber enttäuscht und entdeckte darin eine „Leisetreterei“. Die von Wolf untersuchten Quellen brechen hier ab und er konstatiert, dass das einmütige Eintreten der Amtskollegen und die Einstellung des Ottensooser Kirchenvorstandes dafür gesorgt haben, dass der Kreisleiter Hirschmann und der Stürmer verstummt sind, aber es zu keiner wirklichen Rückendeckung der vorgesetzten Stellen kam. Er meint, eine verspätete Genugtuung besteht darin, dass ihm in Ottensoos ein wertschätzendes Andenken zuteil wird.

In ihren Ausführungen zu ihrer Großmutter Magda Dietzfelbinger, der Ehefrau des Pfarrers, schreibt Erika Geiger, dass die Ausübung des Pfarrberufs für Wilhelm Dietzfelbinger immer schwieriger und belastender wurde, da er praktisch unter Polizeiaufsicht gestellt wurde und seine Predigten von Gendarmen mitgeschrieben wurden. Nach dieser belastenden Zeit beschloss der mittlerweile 67-Jährige, in den Ruhestand zu gehen, auch wenn zu jener Zeit die Altersgrenze mit 67 noch nicht erreicht war. Das Ehepaar Dietzfelbinger zog nach Erlangen, wo es bis zu Wilhelm Dietzfelbingers Tod 1957 lebte.

Wandeltheater, Dietzfelbinger
Beim Wandeltheater 2018 (zum Gedenken an die Reichsprogromnacht 80 Jahre zuvor) wurde das Ehepaar Dietzfelbinger gespielt, das sich am Küchentisch
über die schwierige Lage der Juden unterhält

 

Bildnachweis: Huth